Fachbereich Sprachwissenschaft Universitaet Konstanz Arbeitspapier 94 Abstraktnominalisierungen im Deutschen. Eine Bildungsgeschichte

Klaus von Heusinger


  • Contents

  • Introduction

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  • Contents

  • Einleitung 1
  • Nominalisierungen im Deutschen 2
  • Wortbildung der deutschen Mystik 9
  • Lateinisches Lehngut und Literatur fuer Laien 12
  • Deutsche Mystik und lateinische Scholastik 16
  • Eine Quantitative Analyse des religioesen Wortschatzes 19
  • Zusammenfassung 26
  • Zitierte Literatur 27

  • Appendix A: Aufteilung der dt. Suffixe nach den Lateinischen Vorlagen
  • A 1. Übersichtsdarstellungen 30
  • A 2. Auflistung der Wortpaare dt.-lat. 31
  • A 3. Alle deutschen Formen alphabetisch 37
  • Appendix B: UEbersetzung der lat. Formen in deutsche Entsprechungen
  • B 1. UEbersichtsdarstellungen 40
  • B 2. Auflistung der Wortpaare lat - dt. 41
  • B 3. Alle lateinischen Formen alphabetisch 47
  • Introduction

    1. Einleitung

    Ereignis- und Eigenschaftsnominalisierungen, oft auch vereinfacht Abstraktbildungen genannt, gehoeren zu den wichtigsten Mitteln, um den Wortschatz zu erweitern; doch geniessen sie keinen sehr guten Ruf, da ihnen Umstaendlichkeit, technischer Stil und Fachsprachlichkeit nachgesagt werden. Abstraktbildungen sind jedoch wie auch andere Wortbildungen als Kulturleistung zu betrachten. So fuehrte z.B. im Mittelhochdeutschen die Bildung der Laien durch Predigt, Scholastik, Mystik und Erbauungsliteratur in der Volkssprache seit dem 12. Jh. zu einer neuen Welle von Abstraktbildungen: "Der Bildung des Volkes, oder sagen wir jetzt zeitnaeher: der Laien, entspricht die Bildung‘ der Sprache." (Ruh 1956, 74). Diese "Bildungswoerter" sind dann in den Allgemeinwortschatz uebergegangen, wo sie teilweise noch heute gebraucht werden: begreifen, bilden, einleuchten, Eindruck, Einfluss, Empfaenglichkeit, Erleuchtung, Geistigkeit, Vereinigung usw. Ferner sind so viele neue Abstrakta auf -ung und -heit gebildet worden, dass diese Bildungen heute zu den produktivsten Ableitungen von Abstrakta gehoeren. Besonders der Sprache der Mystik im Mittelalter wird bei der Bildung von neuen deutschen Woertern im Bereich der Abstrakta eine zentrale Rolle zugewiesen. Die Mystik habe in ihrem Bestreben, religioese Inhalte und religioeses Erleben in der Volkssprache auszudruecken, in ihrer Ablehnung von Fremdwoertern und ihrem Beduerfnis, ueber das Gegenstaendliche hinauszugehen, viele genuin deutsche Woerter kreativ geschaffen. Die Arbeit versucht diese Leistung der deutschen Mystik in die geistesgeschichtliche Tradition des Mittelalters und die sprachlichen Verhaeltnisse der Zeit einzubetten. So laesst sich zeigen, dass die Bildungssprache Latein in jahrhundertelangem Kontakt einen praegenden Einfluss auf die Volkssprache Deutsch ausgeuebt hat, der sich bis in die Ausdifferenzierung der Funktion von den Nominalisierungssuffixen -ung und -heit nachweisen laesst.

    Abschnitt 2 gibt einen synchronen und diachronen UEberblick ueber die Nominalisierungsmuster im Deutschen und ihre Distribution. Dabei wird die synchron nicht eindeutig zu rekonstruierende Verteilung der Funktionen der unterschiedlichen Abstraktsuffixe diskutiert. Diachron betrachtet haben sich die semantischen Funktionen der Suffixe erst langsam herausgearbeitet und systematisiert. In Abschnitt 3 wird die haeufig vertretene These dargestellt, die deutsche Mystik habe in ihrem kreativen Sprachgebrauch viele neue Abstraktbildungen geschaffen. Damit habe sie wesentlich zur Selbstaendigkeit des Deutschen beigetragen. Die folgenden beiden Abschnitte fuehren aus, dass diese vereinfachte Sicht in den kulturellen und sprachlichen Zusammenhang gebracht werden muss. In Abschnitt 4 wird der linguistische Hintergrund fuer den lang andauernden Sprachkontakt zwischen Latein und Deutsch aufgearbeitet. Dabei wird besonders auf die unterschiedlichen Arten von Lehngut und dessen Einteilung eingegangen. In Abschnitt 5 wird auf die enge Verflechtung zwischen deutscher Mystik und lateinischer Theologie eingegangen. Die Mystiker hatten, wie das Beipiel von Meister Eckhart belegt, in der Regel eine hervorragende theologische Ausbildung an Ordensstudien oder Universitaeten erhalten. Die Mystikerinnen wurden dagegen von ihren hochgebildeten Beichtvaetern oder "Sekretaeren" in theologischen Fragen unterwiesen, wobei diese gleichzeitig dafuer Sorge trugen, dass die Frauen durch ihre AEusserungen nicht unter Haeresieverdacht geraten konnten. Dieser "Bildungshintergrund" fuehrte auch zu einer Einflussnahme lateinischer Wortbildungsmuster auf das Deutsche. Abschnitt 6 analysiert schliesslich ein Korpus von 465 lateinisch-deutschen Paaren in bezug auf die Abhaengigkeit der mittelhochdeutschen Bildungen von den lateinischen Vorlagen. Dabei wird die oben erwaehnte Korrelation zwischen lat. -(at)io und mhd. -ung(e) sowie lat. -tas und mhd. -heit quantitativ belegt. Ein Appendix praesentiert das gesamte ausgewertete Material in Wortlisten, Tabellen und Graphiken.