Antinomien. Zur Behandlung von semantischen Paradoxien, ihren Risiken, Nebenwirkungen und Unvertraeglichkeiten

Klaus von Heusinger

Konstanzer Berichte 1996/1. Philosophie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie. Universitaet Konstanz.

Eine wesentlich ueberarbeitete Version ist publiziert in: Linguistische Berichte 173, 3-41.

  • Abstract
  • Inhalt
  • Einleitung
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  • Abstract

    Semantic paradoxes exhibit a structure that involves contradiction, circularity, self-reference and semantic concepts such as truth and reference. Although the familiar set-theoretic paradoxes were significant for the foundation of set theory, semantic paradoxes have received little if any attention in linguistics. The paper shows the impact of the paradoxes on the fundamental assumptions of semantic theory such as truth, reference, the universality of language and the principle of bivalence. I discuss the most important philosophical theories that accommodate the paradoxes by modifying or refining one or another of these principles. Even though I demonstrate by use of the "strengthend liar" that no theory presents a final explanation, linguists learn more about the fundamental semantic principle by investigating semantic paradoxes.

    Inhalt

  • 1. Einleitung oder vom Galgen und anderen Luegengeschichten
  • 2. Antinomien, Paradoxien und Variationen
    • 2.1 Was ist eine Antinomin
    • 2.2 Geschichtlicher UEberblick
    • 2.3 Systematischer UEberblick
  • 3. Zur Diagnose von Antinomien
    • 3.1 Diagnoseverfahren
    • 3.2 Diagnose von semantischen Antinomien
      • 3.2.1 Prinzipien des logischen Schliessens
      • 3.2.2 Tarski-Schema der Wahrheit
      • 3.2.3 Universalitaet von Sprache
      • 3.2.4 Bivalenz
      • 3.2.5 Konsistenz
  • 4. Die Behandlung der Antinomien
    • 4.1 Die Luegner-Antinomie ist nicht antinomisch
    • 4.2 Die Redundanztheorie der Wahrheit
    • 4.3 Sprachstufenhierarchie
    • 4.4 Wahrheitswertluecken
      • 4.4.1 Praesuppositionsanalyse
      • 4.4.2 Kategorien-Loesung
      • 4.4.3 Stufenweise Anwendung des Wahrheitspraedikats
      • 4.4.4 Revision der Wahrheitsextension
      • 4.4.5 Bewertung der Ansaetze mit Wahrheitswertluecken
    • 4.5 Parakonsistente Logiken
    • 4.6 Kontextabhaengige Deutung des Wahrheitspraedikats
  • 5. Insolubilia aut Solubilia?
  • Bibliographie
  • Einleitung oder vom Galgen und anderen Luegengeschichten*

    Als Sancho Pansa Statthalter der Insel Barataria war, fragte ein Fremder in Anwesenheit des Haushofmeisters und der uebrigen Mithelfer: 'SeƱor, ein wasserreicher Fluss trennte die zwei Haelften einer und derselben Herrschaft. Euer Gnaden wolle wohl aufmerken, denn der Fall ist von Wichtigkeit und einigermassen schwierig. Ich sage also, ueber diesen Fluss fuehrte eine Bruecke, und am Ende dieser stand ein Galgen und eine Art Gerichtshaus, in dem fuer gewoehnlich vier Richter ihren Sitz hatten und Recht sprachen nach dem Gesetz, das der Herr des Flusses, der Bruecke und der Herrschaft gegeben hatte. Dies Gesetz lautete: Wenn einer ueber diese Bruecke vom einen Ufer zum anderen hinuebergeht, muss er erst eidlich erklaeren, wohin und zu welchem Zwecke er dahin geht, und wenn er die Wahrheit sagt, so sollen sie ihn hinueberlassen, und wenn er luegt, soll er dafuer an dem Galgen haengen und sterben. Nachdem nun dies Gesetz und dessen strenge Verfuegungen bekanntgeworden, gingen viele hinueber, und man konnte sogleich an dem, was sie beeideten, ersehen, dass sie die Wahrheit sagten, und die Richter liessen sie unbehelligt hinuebergehen. Nun geschah es einmal, dass ein Mann bei der Eidesleistung erklaerte, er gehe hinueber, um an dem Galgen dort zu sterben, und zu keinem andern Zweck. Die Richter stutzten bei diesem Eidschwur und sagten: "Lassen wir diesen Mann frei hinueber, so hat er einen Meineid geschworen und muss gemaess dem Gesetze sterben; haengen wir ihn aber, so hat er geschworen, er gehe hinueber, um an diesem Galgen zu sterben, und da er also die Wahrheit gesagt hat, muss er nach dem naemlichen Gesetz frei ausgehen. Nun verlangt man von Euer Gnaden zu wissen, Herr Statthalter, was sollen die Richter mit diesem Manne anfangen?'"
    Diese kleine Geschichte aus Cervantes Don Quijote (II, 51) wertet eine paradoxe Struktur literarisch aus, die unter dem Begriff semantische Antinomie oder Paradoxie seit ueber 2000 Jahren von Philosophen, Mathematikern und Logikern diskutiert wird. Ihre praegnanteste Formulierung findet sie in der Luegner-Antinomie oder der Antinomie des Epimenides, im weiteren auch einfach der Luegner. Sie wird heute meist in der vereinfachten Variante (1) diskutiert, die auf die Formulierung hoc est falsum des Predigers Savonarola (1452-1498) zurueckgeht.

    (1) Dieser Satz ist falsch.

    Wenn der Satz falsch ist, behauptet er, dass er wahr ist. Ist er hingegen wahr, dann behauptet er, dass er falsch ist. Der paradoxe Charakter besteht darin, dass der Satz zu zwei sich widersprechenden oder inkonsistenten Aussagen fuehrt, deren Wahrheitswert je von dem der anderen Aussage abhaengt, und damit einen zirkulaeren und unaufloesbaren Widerspruch produziert. Der Widerspruch entsteht aus allgemein akzeptierten Annahmen ueber grundlegende Begriffe der Semantik, wie Wahrheit, Selbstreferenz, Konsistenz, logische Schlussregeln etc. Damit fordern semantische Paradoxien oder Antinomien eine weitere Klaerung und tiefergehende Auffassung dieser Konzepte.
    Antinomien wurden bereits in der Antike in den unterschiedlichsten Formen so haeufig diskutiert, dass sie sich ueber die eigentliche philosophische Behandlung hinaus zu beliebten literarischen Motiven entwickelten. So wird eine fruehe Variante der Luegner-Antinomie sogar von dem Apostel Paulus in seinem Brief an Titus erwaehnt. Titus hatte sich ueber die schwierige Missionsarbeit auf Kreta beklagt und Paulus versuchte ihm Mut zuzusprechen. Dabei berichtet er (1: 12-13), dass einer der Kreter, einer ihrer Propheten gar, gesagt habe: "Die Kreter sind von jeher verlogene Menschen, boese Bestien und faule Baeuche." Dieser Ausspruch geht auf den zu der Zeit wohl bekannten Satz Der Kreter Epimenides sagt, dass alle Kreter luegen zurueck. Dieser Satz wurde ueber seine allgemein kreterfeindliche Aussage hinaus in der griechischen Philosophie und Rhetorik als ein typisches Beispiel einer semantischen Antinomie immer wieder diskutiert. Es wird sogar kolportiert, dass sich der Grammatiker und Philologe Philetas von Kos (340-285 v. Chr.) aus Verzweiflung ueber seine Unfaehigkeit, die Luegner-Antinomie zu loesen, von den Klippen ins Meer geworfen habe (s. Abschnitt 2.2). Auch die mittelalterliche Scholastik beschaeftigte sich mit den Paradoxien, die u.a. auf die oben erwaehnte Stelle im ersten Paulusbrief zurueckgefuehrt wurden. In der beginnenden Neuzeit waren die semantischen Antinomien jedoch zunaechst kein Thema.
    Erst mit der Entdeckung der mengentheoretischen oder ontologischen Paradoxien zu Beginn dieses Jahrhunderts begann eine erneute ernsthafte und tiefe theoretische Auseinandersetzung mit den Antinomien. Die mengentheoretischen Antinomien hinterfragten naemlich die Grundlagen der modernen Mengenlehre und Mathematik, wie sie im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, und fuehrten zu einer wesentlichen Weiterentwicklung der Mengenlehre. Waehrend die Diskussion um die mengentheoretischen Antinomien zu verbesserten mathematischen Modellen fuehrte, so dass semantischen Antinomien nun nicht mehr im Mittelpunkt des mathematischen Interesses stehen, sind sie ungeloest der Sprachphilosophie erhalten geblieben, von der sie wiederum die formale Semantik geerbt hat. Seit den 70er Jahren hat eine erneute sprachanalytische Diskussion mit dem Ziel eingesetzt, die Antinomien durch eine Klaerung und Verfeinerung der Grundlagen der Semantik aus der Welt zu schaffen. Diese Diskussion hat jedoch keine tieferen Auswirkungen auf die Diskussion in der formalen Semantik gehabt. So tauchen die Stichworte Antinomie oder Paradoxie nicht einmal im Index der beiden aktuellsten Handbuechern zur Semantik auf. Selbst in einem gerade erschienen Handbuch zur Sprachphilosophie sind sie nicht mit einem eigenen Artikel vertreten, sondern werden nur an wenigen und verstreuten Stellen erwaehnt. Die Situation sieht fuer allgemeine linguistische Lexika und Einfuehrungen in die Semantik kaum besser aus. Eine Ausnahme bildet hier nur die Monographie von Barwise & Etchemendy (1987) zum Luegner-Paradox, die im Vorwort (S. vii) die Situation folgendermassen beschreiben:

    It is striking, though, that in one branch of logic, model theory, the impact of the paradoxes has been almost entirely negative. The Liar paradox, by convincing the founding fathers that languages containing their own truth predicate and allowing circular reference were incoherent, has led to the exclusion of such languages from mainstream logic. (...) Indeed, we think the Liar is every bit as significant for the foundation of semantics as the set-theoretic paradoxes were for the foundation of set theory.

    Ziel dieser Arbeit wird weder eine rein mathematische oder logische Darstellung formaler Systeme zur "Loesung" semantischer Paradodxien sein, noch wird eine bestimmte Behandlung empfohlen. Es soll vielmehr versucht werden, die Diskussionen um die semantischen Antinomien und deren unterschiedliche Ergebnisse zusammenzufassen. Denn "the literature on the paradoxes is vast but scattered, repetitive and disconnected" (Visser 1989: 617). Es kann gezeigt werden, dass die Beschaeftigung mit semantischen Antinomien wichtige Impulse fuer die Weiterentwicklung der semantischen Grundlagenforschung bringt. Ich werde nicht versuchen, eine bestimmte Loesung der semantischen Antinomien zu vertreten, vielmehr sollen die unterschiedlichen Diagnosen des Problems im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Ferner werden Risiken, Nebenwirkungen und Unvertraeglichkeiten der jeweiligen Behandlung diskutiert. Dabei sollen einzelne Grundannahmen zu Wahrheit, Selbstreferenz, Konsistenz von Sprachen und deren formaler Rekonstruktion sprachanalytisch hinterfragt und diskutiert werden. Jede dieser Grundannahmen scheint intuitiv zunaechst sehr plausibel zu sein. Doch bei einer naeheren Betrachtung sind Modifikationen oder Verfeinerungen der Rekonstruktion moeglich und angebracht. So wie die mengentheoretischen Antinomien die Klaerung grundlegender Begriffe erzwungen haben, so koennten auch die semantischen Paradoxien zur genaueren Analyse der Grundlagen der Semantik und der Struktur von Bedeutung dienen. Dennoch scheitern bisher noch alle Modifikationen und verfeinerten Theorieentwuerfe an dem Verstaerkten Luegner, der die jeweilige modifizierte und neu eingefuehrte Begrifflichkeit in die semantische Antinomie so einbaut, dass die paradoxe Struktur auf hoeherer Stufe erneut auftritt. Am Ende wird also nicht die Loesung der Antinomie stehen - es ist ja noch nicht einmal geklaert, ob es eine solche ueberhaupt geben kann - sondern ein verbessertes Verstaendnis vom Aufbau und der Struktur der Bedeutung natuerlicher Sprachen.

    Die Arbeit ist folgendermassen aufgebaut: Im zweiten Abschnitt wird zunaechst eine intuitive Abgrenzung gegen andere widerspruechliche Saetze oder paradoxe Formulierungen gegeben. Dabei werden Antinomien mit den Eigenschaften der Widerspruechlichkeit, Selbstbezueglichkeit und Zirkularitaet gekennzeichnet. Dann soll in einem kurzen geschichtlichen UEberblick die Behandlung der Antinomien von der Antike bis in die Gegenwart vorgestellt werden. Schliesslich soll ein systematischer UEberblick die Einordnung der unterschiedlichen Varianten ermoeglichen, die im Laufe der Arbeit eine Rolle spielen werden. Im dritten Abschnitt wird auf die wesentlichen Grundbegriffe eingegangen, die konstitutiv fuer eine Rekonstruktion der Semantik der natuerlichen Sprache sind: die logischen Schlussprinzipien, das Tarski-Schema der Wahrheit, Selbstreferenz, die Universalitaet von Sprache, das Prinzip der Bivalenz, die Annahme von der Konsistenz von Sprache, Indexikalitaet und die dynamische Interpretation von Bedeutung. Diese Konzepte werden im einzelnen vorgestellt, wobei auf ihre intuitive Plausibilitaet und die Moeglichkeit einer Modifikation kurz eingegangen wird. Im vierten Abschnitt werden dann einige Behandlungsvorschlaege fuer semantische Paradoxien am Beispiel der Luegner-Paradoxie vorgestellt. Sie modifizieren je eines der in Abschnitt 3 vorgestellten Prinzipien. Eine Anwendung des Verstaerkten Luegners auf die unterschiedlichen Theorien zeigt jedoch, dass das grundlegende Problem nicht erfasst wird. Das fuenfte Abschnitt versucht eine Deutung und Bewertung der Ergebnisse. Insbesondere wird die These, dass die semantischen Antinomien ein Ausdruck der "Unhintergehbarkeit" von Sprache sind, aus logischen, methodischen und historischen Gruenden zurueckgewiesen.

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