Aus der lateinischen Fachsprache zur deutschen Mystik. Der lange Weg der Suffixe -ung und -heit.

Klaus von Heusinger & Sabine von Heusinger

Endgueltige Version erschien in:

K. Adamzik & J. Niederhauser 1999. Wissenschaftssprache und Umgangssprache. Frankfurt: Lang, 59-79.
(Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 38)




Inhalt

  • Einleitung
  • Sprache der Mystik
  • Deutsche Mystik und lateinische Theologie
  • Wege vom Kirchenlatein zum Predigtdeutsch
  • Abstraktsuffixe im Deutschen
  • Vom Fachlatein zum Fachdeutsch
  • Eine Quantitative Analyse des religioesen Wortschatzes
  • Zusammenfassung
  • Zitierte Literatur
  • Einleitung

    Der Sprache der Mystik im Mittelalter wird bei der Bildung von neuen deutschen Woertern, besonders im Bereich der Abstrakta, eine zentrale Rolle zugewiesen. Bisher wurde davon ausgegangen, dass die Mystik in ihrem Bestreben, religioese Inhalte und religioeses Erleben in der Volkssprache auszudruecken, in ihrer Ablehnung von Fremdwoertern und ihrem Bedürfnis, ueber das Gegenständliche hinauszugehen, viele genuin deutsche Woerter kreativ geschaffen habe. Diese seien dann als "Bildungswoerter" in den Allgemeinwortschatz uebergegangen, wie z.B. begreifen, bilden, einleuchten, Eindruck, Einfluss, Empfänglichkeit, Erleuchtung, Geistigkeit, Vereinigung usw. Ferner seien so viele neue Abstrakta auf -ung und -heit gebildet worden, dass diese Bildungen bis heute zu den produktivsten Ableitungen von Abstrakta gehoeren. Bei dieser Beschreibung wird jedoch die Einbettung der deutschen Mystik in die geistesgeschichtliche Tradition des Mittelalters ausser acht gelassen, deren Inhalte fast ausschliesslich in der Bildungssprache Latein ueberliefert worden sind. Ausserdem wird uebersehen, dass das Deutsche in dem seit Jahrhunderten andauernden Kontakt mit Latein sehr viel tiefgreifender gepraegt und veraendert wurde, als dies die Anzahl von Fremd- oder Lehnwoertern widerspiegeln koennte. Deshalb soll der Einfluss des Lateins an dem Gebrauch von Abstraktsuffixen exemplarisch aufgezeigt werden: Waehrend die althochdeutschen Uebersetzer noch recht unsystematisch die vorhandenen Abstraktsuffixe zu Bildung neuer Woerter benutzten, wurde ihr Gebrauch in der Folgezeit systematisiert. So entsprechen die mittelhochdeutschen Bildungen auf -ung(e) den lateinischen auf -(at)io und diejenigen auf -heit entsprechen -tas. Das Latein des religioesen Diskurses hat ueber das Deutsch der Predigt und die Sprache der Mystik einen systematischen Einfluss auf die Organisation deutscher Abstraktsuffixe ausgeübt, der noch heute bei Neubildungen wirksam ist.

    Die Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: In Abschnitt 2 wird die haeufig vertretene These dargestellt, die deutsche Mystik habe in ihrem kreativen Sprachgebrauch viele neue Abstraktbildungen geschaffen. Damit habe sie wesentlich zur Selbstaendigkeit des Deutschen beigetragen. Die folgenden beiden Abschnitte f uehren aus, dass diese simplifizierende Sicht die historischen und sprachlichen Gegebenheiten verfaelscht. So wird in Abschnitt 3 die enge Verflechtung zwischen deutscher Mystik und lateinischer Theologie aufgezeigt. Die Mystiker hatten, wie das Beipiel von Meister Eckhart belegt, in der Regel eine hervorragende theologische Ausbildung an Ordensstudien oder Universitaeten erhalten. Die Mystikerinnen wurden dagegen von ihren hochgebildeten Beichtvaetern oder "Sekretaeren" in theologischen Fragen unter-wiesen, die gleichzeitig dafuer Sorge trugen, dass die Frauen durch ihre Aeusse-rungen nicht unter Haeresieverdacht geraten konnten. In Abschnitt 4 wird der linguistische Hintergrund fuer den lang andauernden Sprachkontakt zwischen Latein und Deutsch aufgearbeitet. Dabei wird besonders auf die unterschiedlichen Arten von Lehngut und dessen Einteilung eingegangen. Abschnitt 5 gibt eine kurze Uebersicht ueber den Bestand von Abstraktsuffixen im Deutschen vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen. Der systematische Einfluss lateinischer Abstraktsuffixe auf das deutsche System wird in Abschnitt 6 vorgestellt. Abschnitt 7 analysiert schliesslich ein Korpus von 465 lateinisch-deutschen Paaren in bezug auf die Abhängigkeit der mittelhochdeutschen Bildungen von den lateinischen Vorlagen. Dabei wird die oben erwaehnte Korrelation zwischen lat. -(at)io und dt. -ung sowie lat. -tas und dt. -heit quantitativ belegt.